Donnerstag, 18.04.2024 14:47 Uhr

Wo stehen wir in der Pandemie?

Verantwortlicher Autor: David H. Aebischer Genf, 15.05.2023, 08:52 Uhr
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Wie ist die aktuelle Lage?
Wie ist die aktuelle Lage?  Bild: Coronavirus-Montage DMZ

Genf [ENA] Wie steht es aktuell um die Pandemie? Trotz der schwierigen Situation, die in vielen Ländern nach wie vor herrscht, scheint das Thema in den Medien zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Um jedoch weiterhin verlässliche Informationen zu verbreiten, ist es wichtig, den Ist-Zustand genau zu erfassen.

In diesem Artikel werfen wir einen genauen Blick auf die gegenwärtige Lage der Pandemie, machen eine Bestandsaufnahme der drängendsten Probleme und diskutieren, warum es so wichtig ist, darüber weiterhin zu berichten. Wir haben uns erneut an Prof. Antoine Flahault, MD, PhD, gewandt, dem renommierten Epidemiologen und Direktor des Instituts für globale Gesundheit in Genf, der uns in dieser wichtigen Phase wissenschaftliche Antworten auf die drängendsten Fragen der Menschen liefert und uns mit seiner Expertise zur Seite steht.

DMZ: Sehr geehrter Prof. Flahault, wie bewerten Sie die aktuelle Corona-Situation in der Welt? Prof. Antoine Flahault: Es ist recht schwierig, die Situation bezüglich Covid zur Zeit genau zu beurteilen, da die Mehrzahl der Länder ihre Gesundheitsüberwachung heruntergefahren haben und die Praxis der PCR-Tests zusammengebrochen ist. Man findet jedoch nirgends mehr bis an die Grenze ausgelastete Spitäler oder Leichenhallen. Natürlich kommt es regelmäßig zu Ansteckungswellen durch die Entstehung neuer Untervarianten von Omikron und dadurch zu Spitaleinweisungen und gar Todesfällen, dies aber weltweit in keiner Weise in dem Ausmaß, wie wir es bis zum letzten Jahr noch gekannt haben.

DMZ: Welche Maßnahmen halten Sie für notwendig, um die Verbreitung des Virus weiter einzudämmen? Prof. Antoine Flahault: Durch wesentliche Verbesserung der Innenraumluft wäre es heute möglich, die Verbreitung des Coronavirus wie auch des Grippevirus, des Respiratory Syncitial Virus (RSV) und des Tuberkulosebazillus erheblich einzudämmen. Diese „Baustelle“, welche wichtige Investitionen in alten Gebäuden und im öffentlichen Verkehr erfordert, muss noch weltweit geplant und umgesetzt werden. Die Schweiz ist dabei aber niemandem voraus, obschon sie als eines der ersten Länder aufgezeigt hat, - es war im Kanton Graubünden - dass 60% der Schulen eine schlechte Lüftung aufweisen mit Werten von über 2000ppm an CO2 in den Klassezimmern.

DMZ: Wie sehen Sie die aktuelle Impfkampagne weltweit? Gibt es Ihrer Meinung nach Verbesserungspotential? Prof. Antoine Flahault: Wir haben sehr rasch über wirklich wirkungsvolle Impfungen gegen die schweren und tödlichen Folgen des Covid verfügt. Die Impfung hat also den Verlauf dieser Pandemie verändert und dies ist erfreulich. Aber wie es leider traurige Gewohnheit bei uns ist, haben sich die reichen Länder als erste bedient und nur die Krümel für die armen Länder übrig gelassen, wenn wir nicht gerade Dosen verschwendet haben, die wegen abgelaufener Haltbarkeitsdauer weggeworfen werden mussten.

Einige Mechanismen wurden entwickelt, um diese Ungerechtigkeiten zu beheben, ohne dass es jedoch gelang, die erheblichen Unterschiede in der Abdeckung der Länder auszugleichen. COVAX hat in diesem Bereich in einem äußerst komplizierten Kontext ausgezeichnete Arbeit geleistet. DMZ: Wie hat sich die Corona-Situation in der Schweiz entwickelt und welche Maßnahmen wurden ergriffen, um die Verbreitung des Virus zu kontrollieren? Prof. Antoine Flahault: Die definitive Bilanz dieser Pandemie muss weltweit in den meisten Ländern und auch in der Schweiz noch gezogen werden. Es gilt, wertvolle Lektionen daraus abzuleiten. Einige werden positiv sein, andere weniger. Dies wird uns ermöglichen, für eine nächste Krise besser gewappnet zu sein.

DMZ: Wie bewerten Sie die aktuelle Situation in Bezug auf die Lockerung der Maßnahmen in der Schweiz? Prof. Antoine Flahault: Wie alle anderen Länder fährt auch die Schweiz ihre Covid-Schutzmaßnahmen herunter. Es ist fortan nicht mehr an den Bürgern, die sich während der ganzen Gesundheitskrise gut verhalten haben, sich nach dem Ende des gesundheitlichen Notstandes weiter „anzustrengen“. Die öffentlichen Behörden jedoch haben die Pflicht ihre Bemühungen und ihre Wachsamkeit aufrechtzuerhalten sowie auch die am meisten gefährdeten Menschen zu schützen und Lösungen zu suchen zur besseren Behandlung von post-infektiösen Formen (Long Covid).

DMZ: Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie auf die Wirtschaft in der Schweiz? Prof. Antoine Flahault: Die Schweizer Wirtschaft hat ganz klar in allen am stärksten exponierten Sektoren unter dieser Pandemie gelitten. Die sozialen Puffer haben in bemerkenswerter Weise funktioniert und zur Verbesserung der gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte beigetragen, sodass die Krise besser überstanden werden konnte. Was in einer absoluten Katastrophe hätten münden können, wurde dank des gemeinsamen Einsatzes vermieden, jenem der Bevölkerung, der Medien und der Politiker der meisten europäischen Länder, darunter die Schweiz.

DMZ: Wie gehen die Menschen in der Schweiz mit der aktuellen Situation um? Haben sich die Einstellungen gegenüber den Maßnahmen verändert? Prof. Antoine Flahault: Die Schweiz hat eine Abwasserüberwachung eingeführt, welche sich als relevanter und vielleicht auch ausreichender Indikator für den jetzigen Eintritt in den postpandemischen Kontext erweisen kann. Die Analyse des Abwassers ermöglicht es nämlich, den Grad der Zirkulation der respiratorischen Viren in der Bevölkerung, das Auftreten neuer Varianten und ihren Platz in der aktuellen molekularen Epidemiologie zu bewerten. Ziel wäre es, dass diese Überwachung mehr als bisher das gesamte Staatsgebiet abdeckt.

DMZ: Wie gehen die Menschen in der Schweiz mit der aktuellen Situation um? Haben sich die Einstellungen gegenüber den Maßnahmen verändert? Prof. Antoine Flahault: Die Schweiz hat eine Abwasserüberwachung eingeführt, welche sich als relevanter und vielleicht auch ausreichender Indikator für den jetzigen Eintritt in den postpandemischen Kontext erweisen kann. Die Analyse des Abwassers ermöglicht es nämlich, den Grad der Zirkulation der respiratorischen Viren in der Bevölkerung, das Auftreten neuer Varianten und ihren Platz in der aktuellen molekularen Epidemiologie zu bewerten. Ziel wäre es, dass diese Überwachung mehr als bisher das gesamte Staatsgebiet abdeckt.

DMZ: Wie beurteilen Sie die Perspektiven für die kommenden Monate im Hinblick auf die Corona-Situation in der Schweiz und weltweit? Prof. Antoine Flahault: Es stellt sich eine Frage, auf die wir keine genaue Antwort finden, nämlich jene der Dauer der Beständigkeit einer wirksamen Impfimmunität gegen die schweren Formen in der Bevölkerung. Braucht es eine jährliche Auffrischungsimpfung, um neuen dramatischen Wellen, wie wir sie bei der ersten Welle der Pandemie gekannt haben, vorzubeugen? Oder wird die derzeitige kollektive Immunität lange genug bestehen bleiben, um uns weiterhin zu schützen? In den nächsten Monaten sollten wir vermehrt Antworten auf diese Fragen haben.

DMZ: Wie können wir sicherstellen, dass die Corona-Krise in Zukunft besser bewältigt werden kann? Prof. Antoine Flahault: Die Verbesserung der Qualität der Innenraumluft ist eine der Antworten auf Ihre Frage. Die Suche nach neuen Impfstoffen, die wirksamer gegen die Zirkulation des Virus sind, neue antivirale Mittel, welche leichter zugänglich und zu verabreichen sind, könnten ebenfalls zu einer erheblichen Senkung der Spitaleinweisungen, Todesfälle und Fälle von Long Covid beitragen. Diese Zahlen fallen in den letzten Monaten immer noch zu hoch aus und dies einfach hinzunehmen, ist keine Option.

DMZ: Wie sieht die Zukunft des Gesundheitssystems in Bezug auf Pandemiebekämpfung aus? Prof. Antoine Flahault: Ein System, das stärker auf Prävention ausgerichtet ist, eine in der Wissenschaft besser ausgebildete Bevölkerung, wachsamere Kommunikation und Medien, mit dem Ziel, populistische Anti-Wissenschafts-Bewegungen zu filtern und ihnen entgegenzuwirken. Staatsführer, die besser untereinander koordiniert sind und mehr Solidarität mit den ärmsten Staaten der Welt zeigen - all dies würde eine bessere Vorbereitung auf den Kampf gegen Pandemien erlauben. Zudem müsste die WHO im Fallen einer drohenden Gesundheitskrise über eine echte unabhängige Untersuchungsbefugnis verfügen.

DMZ: Was ist Long Covid und welche Symptome können auftreten? Prof. Antoine Flahault: Von Long Covid spricht man bei Symptomen, die mehrere Wochen nach einer vermeintlichen Genesung einer Covid-Infektion andauern oder sich entwickeln. Dabei sind diese Symptome sehr unterschiedlich. Einige davon betreffen die Atemwege, wie z.B. Atemnot, andere wiederum äußern sich in extremer Müdigkeit, Brain fog (Anm. DMZ: deutsch: Gehirnnebel - ist ein Zustand, bei dem eine Person Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren, zu denken oder sich zu erinnern.

Es gibt aber auch Herz-Kreislauf-Probleme, thrombo-embolische- oder Muskelprobleme. Auch über einige psychische Störungen wurde berichtet. DMZ: Wie häufig tritt Long Covid auf und wer ist am meisten gefährdet? Prof. Antoine Flahault: Man geht davon aus, dass 10% der Personen, die sich mit Covid angesteckt haben, auch mit einer leichten Form, Long Covid entwickeln. Obschon für alle immer ein Risiko für Long Covid besteht, sind es epidemiologisch Frauen mittleren Alters aus mittleren oder tieferen sozialen und beruflichen Schichten, die davon am meisten betroffen sind.

DMZ: Welche Auswirkungen hat Long Covid auf die Lebensqualität der Betroffenen? Prof. Antoine Flahault: Sie sind auch sehr unterschiedlich. Manche Menschen leiden kaum unter ihrem Long Covid. Andere wiederum berichten von schweren Problemen, wie dem Verlust der Lebensfreude, starker Müdigkeit und der Unfähigkeit, am sozialen, schulischen oder beruflichen Leben teilzunehmen. Athleten schaffen es nicht mehr ihren Sport auszuüben, Schauspieler können ihren Beruf nicht mehr ausüben, Schüler und Studenten nicht mehr zur Schule gehen.

DMZ: Wie wird Long Covid behandelt und welche Therapien gibt es? Prof. Antoine Flahault: Es ist schwierig, eine Krankheit zu behandeln, bei der die ihr zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen nicht ergründet sind. Einige Theorien gehen von einer Persistenz des Virus im Körper aus, so dass antivirale Medikamente, auch wenn sie spät verschrieben werden, hilfreich sein könnten. Andere verweisen auf immunologische Mechanismen, eine Autoimmunreaktion, was eher auf entzündungshemmende Medikamente hinweisen würde. Wieder andere verweisen auf Mikroembolien in den Gefäßen der betroffenen Organe.

In diesem Fall könnten Antikoagulantien oder Thrombozytenaggregationshemmer vorgeschlagen werden. Würde man ein „Verursacher-Protein“ entdecken, würde man wahrscheinlich nach gezielten monoklonalen Antikörpern suchen. Wir sind jedoch noch nicht so weit. Es ist möglich, dass mehrere verschiedene Mechanismen Ursache sind, die mehr oder weniger miteinander verbunden sind, was die Suche nach therapeutischen Lösungen weiter erschweren würde.

DMZ: Welche Rolle spielen die Impfungen bei der Vorbeugung von Long Covid? Prof. Antoine Flahault: Einige Studien haben einen teilweisen Schutz gegen Long Covid durch die Impfung aufgezeigt. Dieser ist aber nicht vollständig. Einige Fälle von Long Covid haben sich bei geimpften Personen entwickelt, die sich im Anschluss mit dem Virus angesteckt haben. DMZ: Was sind die langfristigen Folgen von Covid-19 für die Gesundheit? Prof. Antoine Flahault: Laut Ergebnis einer israelische Studie mit einer großen Kohorte von Personen, die über ein Jahr lang beobachtet wurden, sollen sich die Symptome bei den meisten Patienten mit Long Covid unter Jahresfrist zurückbilden.

Diese Studie hat bei einigen Patienten und ihren Ärzten für Aufregung gesorgt, da es durchaus Long Covid gibt, die über ein Jahr hinaus bestehen bleiben. Dennoch gibt es doch den Betroffenen Hoffnung, dass sich ihr Problem in der überwiegenden Mehrheit der Fälle innerhalb einiger Monate spontan lösen wird. DMZ: Wie können Menschen, die sich von Covid-19 erholt haben, ihre Gesundheit verbessern und ihre Genesung beschleunigen?

Prof. Antoine Flahault: Bei allen Personen, die von einer schweren Form des Covid oder vom Long Covid verschont blieben, glich Covid einer ziemlich banalen Grippe. Es ist auch so, dass sich zurzeit viele Personen mit dem Virus anstecken, ohne dies zu bemerken, da sie sich ja nicht mehr testen. Sie reden dann von Grippe, Schnupfen, aber in Wirklichkeit handelt es sich um Covid. Dies macht die Diagnose von Long Covid recht schwierig. Die Personen erinnern sich nicht mehr an eine Covid-Erkrankung während der vergangenen Wochen oder Monate.

DMZ: Welche Unterstützung und Hilfe gibt es für Menschen mit Post-Covid-Symptomen? Prof. Antoine Flahault: Es gibt Fachabteilungen, welche sich auf Long Covid spezialisiert haben, wie wir sie auch im Universitätsspital Genf haben. Es ist sinnvoll, bei einer klaren Diagnose von Long Covid oder bei Zweifel an der Diagnose eine solche Fachstelle aufzusuchen. Dort verfügt man über solide Erfahrungen, die es erlauben die oft ratlosen und allein gelassenen Patienten richtig zu beraten.

DMZ: Wie wird Post-Covid-Fatigue diagnostiziert und behandelt? Prof. Antoine Flahault: Es braucht Ärzte, welche aufgrund der zahlreichen Erfahrungen mit Patienten, mit dem Problem vertraut sind. Sie sind in der Lage zwischen einer Müdigkeit nach Covid oder einer Müdigkeit aufgrund eines anderen Problems oder gar eines psychiatrischen Problems zu unterscheiden. Die Behandlung wird natürlich nicht dieselbe sein. DMZ: Welche Forschung wird derzeit durchgeführt, um Long Covid und Post Covid besser zu verstehen und zu behandeln?

Prof. Antoine Flahault: Die Abteilungen für Langzeit-Covid befinden sich häufig in Universitätskliniken, wo Forschung betrieben wird und Patienten in Kohorten aufgenommen werden, um ihre Entwicklung zu verfolgen, ihre Heilung zu belegen oder ihre Nachsorge zu übernehmen. Ursprung und Ursachen anhaltender Symptome müssen besser verstanden und dann die verfügbaren Behandlungsmethoden mit der gebotenen wissenschaftlichen Genauigkeit bewertet werden.

Ein nicht zu unterschätzendes Risiko besteht darin, dass ein regelrechter Markt für Scharlatane zu entstehen droht, wo falsche Hoffnungen an mittellose Patienten verkauft werden wollen. Diese besonders verletzliche Menschen müssen geschützt werden. Leider sind sie oft verzweifelt und bereit, auf den ersten „Experten“ zu hören, der behauptet, ihr Leiden lindern zu können.

Originalartikel: https://www.mittellaendische.ch/2023/05/10/covid-19-wo-stehen-wir-in-der-pandemie/

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