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Buchempfehlung: Feuer der Freiheit

Verantwortlicher Autor: Kurt Lehberger Frankfurt am Main, 03.10.2023, 15:58 Uhr
Fachartikel: +++ Kunst, Kultur und Musik +++ Bericht 7836x gelesen

Frankfurt am Main [ENA] Wie erleben die vier Visionärinnen Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Ayn Rand und Simone Weil die Kriegsjahre? Die entscheidenden zehn Jahre, von der Machtergreifung von Hitler 1933 bis 1943, sind anhand von vier Frauen nacherzählt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich für Philosophie interessieren und jede für sich das Feuer der Freiheit in besonderer Art und Weise erlebt.

Hanna Arendt migriert nach Frankreich, um der Verfolgung durch die Gestapo zu entkommen. Als Jüdin wird sie auch im besetzten Frankreich verfolgt und schafft es mit viel Mühe nach USA auszuwandern. Sie hat 1929 bei Karl Jaspers in Philosophie promoviert und sieht ihre Freiheit in der politischen Aktion. Andy Ran ist eine junge Russin, die als Touristin mit neunzehn Jahren nach USA reist und dort im Filmgeschäft als Drehbuchautorin und Schriftstellerin Fuß fasst. Sie ist geprägt von ihrer russischen Vergangenheit und für sie ist das Individuum und die persönliche Freiheit des Einzelnen die wahre Freiheit. Kein Kollektiv, kein Volk, keine Partei darf sich über den Einzelnen stellen.

Simon Weil ist in ihrem Altruismus und ihrem Gottesglauben näher an den anderen Menschen als an sich selbst. Ihre Freiheit ist die Gnade Gottes und sie findet sie im Leiden für die anderen. Anders als die drei anderen stammt Simon de Beauvoir nicht aus einer jüdischen Familie. Sie ist staatlich examinierte Philosophin und später freie Schriftstellerin. Sie findet die Freiheit im Existenzialismus und in der Freiheit der Liebes- und Lebenspartnerschaften. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass die vier unterschiedlichen philosophischen Grundrichtungen der vier Frauen beschrieben werden und dabei sowohl die frühen Fundamente der Denkschulen als auch die Einflüsse durch die Entwicklungen des Weltgeschehens berücksichtigt werden.

Spannend dabei sind die persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen der Frauen in diesen so furchtbar dicht hintereinander folgenden Ereignisse des Krieges und der Verfolgung. Es sind Existenznot, Hunger, Entbehrungen, Angst, furchtbare Fluchterlebnisse, die sie prägen. Es gibt auch Lichtblicke, die sich durch persönliche Erfolge einstellen. Simone de Beauvoir hat nach mehrmaligen Ablehnungen, schließlich einen Erfolgsroman herausgebrachte. Ayn Rand kommt zu einem lukrativen Drehbuchvertrag und kann sich materiell absichern. Ihr Roman The Fountainhead, der 1943 erscheint, macht sie weltberühmt und reich. Simone Weil ist mutig und probiert viele Formen des Engagements aus. Sie ist gesundheitlich sehr schwach und zahlt mit dem frühen Tod.

Hanna Arendt engagiert sich stark für die Juden und erhebt ihre Stimme gegen den Faschismus and alle Antisemiten. Das Buch ist eine kleine Philosophiegeschichte. Wir erleben eine Reise in die Gedankenwelten der vier Frauen und durch die biographischen Zusammenhänge erfahren wir von den grundlegenden philosophischen Gedanken wie sie von Platon, Augustinus, Hegel, Husserl, Heidegger, Adorno, Benjamin, Sartre, Camus, Jaspers, Marx, Nietzsche, Trotzki aufgezeichnet wurden. Die historischen Ereignisse wie Spanischer Bürgerkrieg, Stalins Säuberungen, Judenverfolgung, Ausweitung des Krieges, Besetzung Frankreichs werden mit den Biographien wiedergegeben.

Hannah Arendt bezieht sich auf Rahel Varnhagen von Ense, eine jüdische Schriftstellerin im frühen 18 Jhd., die sich für die Frauenrechte einsetzte. Sie lehrt sie, dass Selbstfindung nur mit anderen Menschen zu erreichen ist. Andere Menschen sind keine abstrakten Wesen, sondern konkrete Personen im historischen und sozialen Dasein. So wie Hannah Arendt Deutsche ist und Jüdin, was eine neue Dimension im Jahre 1933 darstellte, als die Judenverfolgung begann. Simon Weil distanziert sich schon sehr früh von der kommunistischen Partei, von den Funktionären und von Hitler und Stalin, die nur ihre Macht vergrößern wollen, um der Macht willen, sei es ein repressiver Überwachungsstaat oder eine bürokratische Diktatur.

Für Simon Weil ist die Unterordnung der Gesellschaft unter das Individuum, die wahre Demokratie, die Freiheit. Sie verteidigt die eigene Persönlichkeit gegen die Gesellschaft. Der Autor, Wolfram Eilenberger, gibt den Textpassagen in der chronologischen Folge eigne Überschriften. Diese werden erst verständlich, nachdem man den Text gelesen hat. Z.B. „Heilsarmee“. Hier ist es Trotzki, der in einer Wohnung von der Familie Weils in Paris Unterschlupf findet. Simone Weil wirft ihm vor, für die Exekution von 1.500 Kontrarevolutionären im Matrosenaufstand von 1921 verantwortlich zu sein, worauf Trotzki antwortete, „warum gewähren Sie mir hier überhaupt Unterkunft, sind Sie etwa von der Heilsarmee.“

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir verstehen die Phänomenologie Husserls, in der Realismus und Idealismus eng miteinander verbunden sind, wie zwei Tanzende, die im Tanz aufgehen, aber ohne den anderen, der Tanz nicht sein kann. Beauvoir ist mit Sartre im Jahr 1933 in Berlin und sieht die Realität nicht, weder die Not der Menschen noch ihre Verfolgung. Architektonische und kulinarische Eindrücke überziehen ihre Reiseberichte, ohne die Not der Menschen, die ohne Arbeit waren und um ihr Überleben kämpften und den Verfolgungen und der Willkür der SA und SS ausgesetzt waren, zu erwähnen. Auch Moskau und die Sowjetunion werden besucht. Es kommt zu keiner Distanzierung von Stalin.

Simon Weil unbedingter Altruismus verbietet ihr die romantische Liebe oder jede Art Intimität mit einer anderen Person. Die Liebe zu einer unter allen erscheint ihr ein Betrug an der Nächstenliebe für alle. Im Gegensatz dazu ist Simone de Beauvoir erfahrungshungrig dem Hedonismus zugewandt. Sie erlebt 1937 eine physische und psychische Krise, die sie über Monate ans Bett fesselt. Simone Weil ist Gewerkschaftsanarchistin, setzt Kommunismus und Faschismus, Russland und Deutschland in der blutigen Absurdität von Bürgerkrieg und Weltkrieg gleich und lehnt daher auch antifaschistische und antikommunistische Positionen ab.

Gerade im Krieg gilt „Erkenne Dich selbst“, um der Versteinerung der Seelen und der Blindheit durch die erfahrene Gewalt zu entgehen. Menschen werden zu Dingen gemacht, ihres Ichs beraubt, verfolgt, getötet. Hannah Arendt wendet die Begriffe „Paria“ – diese Person ist in einer gesellschaftlichen Außenposition und „Parvenue“ – diese Person ist der gesellschaftliche Aufsteiger, bezüglich der jüdische Assimilation wie sie Rahel Varnhagen von Ense als Parvenue vorlebt, an und kommt zu dem Schluss, dass diese Anpassung, eine elementare Lüge und schlimmer als einfache Heuchelei ist. Die Tilgung der Paria-Ursprünge kann nicht geschehen, ohne die Aufgabe der eigenen Identität.

Für Hannah Arendt wurde das Überlebensdreieck aus Arbeits-, Aufenthalts- und Ausreisepapiere für Deutsche in Frankreich unerträglich. Arendt gelingt es aus dem Lager in Gurs zu entkommen. Sie nimmt den mühevollen, langen Weg über die Pyrenäen auf sich und erreicht Lissabon. Von hier kann sie 1941 weiter mit ihrem Ehemann Heinrich Blücher per Schiff nach USA reisen. Ihr Freund Walter Benjamin scheitert, da ihm die Ausreisegenehmigung fehlt. Er nimmt sich entmutigt und erschöpft das Leben.

Der universale Weltgeist Hegels, der von der eigenen Lebenssituation abstrahiert, beruhigt Simone de Beauvoir, insofern der eigene Kummer im Laufe des Weltgeistes bedeutungslos wird. Doch so eine Philosophie der reinen Vernunft steht der Spontanität des eigenen Ichs und des eigenen Empfindens entgegen. Simone de Beauvoir begreift Freiheit im Handeln und Entscheiden, in der Spontanität des Ichs. Das Buch: „Feuer der Freiheit“ Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943) von Wolfram Eilenberger, 2022 als Taschenbuch erschienen.

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