
Münchner Medientage 2024 - Realities

München [ENA] Das heurige Motto der Münchner Medientage Ende Oktober war offensichtlich provokativ gewählt, denn angesichts der sich vermehrenden synthetischen Medienprodukte der Künstlichen Intelligenz (KI) wird die Vorstellung einer einzigen, einheitlichen und allgemeinen Wirklichkeit in Frage gestellt.
Man kommt nicht mehr um Realitätsmanagement herum. Anthropologisch betrachtet ist die Sache einfach: der Mensch verwendet Werkzeuge und schafft damit seit Anbeginn der Kultur auch Nachbilder von sich selbst. Daß diese früher stets auch von der originären Wirklichkeit unterscheidbar gewesen wären, ist nur unsere heutige, etwas voreilige und hochmütige Einschätzung. Schon Pygmalion schuf eine derart lebensechte Statue, daß er sich in sie verliebte und wunschgemäß zum Leben erweckt bekam. Und wer kann sagen, daß in der katholischen Frömmigkeit früherer Zeiten nicht auch "Gnadenbilder" Realitätskraft für den Gläubigen bewiesen hätten?
Die Frage „Wahr oder falsch? Das ist heute immer weniger erkennbar“, die Dr. Thorsten Schmiege, Präsident der BLM, in der Eröffnung stellte, beschreibt insofern keinen neuen Zustand, sondern eher ein neues Niveau des Werkzeuggebrauchs. Und Wahrheit ist zunächst keine Aufgabe der Politik, wie zwei Tage später Staatsminister Dr. Florian Herrmann in Erinnerung rief: "Demokratie stellt nicht Wahrheit her, sondern gleicht Interessen aus."
Henry Ajder, KI-Experte und Gründer der Latent Space Advisory, illustrierte die heutige Realitätskraft mit einschlägigen Beispielen, dem Fortschritt der Bildgeneratoren, der Ununterscheidbarkeit echter Portraits von gerechneten Menschen, der guten Verwendbarkeit von Videoavataren, geklonten Stimmen, generiertem Programmiercode. Die Beschleunigung der Nutzerzahl gegenüber früheren medialen Angeboten ist atemberaubend, die Einsatzmöglichkeiten im medizinischen Sektor sind noch kaum abzusehen, reichen vom automatischen Gebärdendolmetscher über histologische Tumoranalysen bis zur Kommunikationsunterstützung für Locked-in-Patienten.
Das Überthema KI konnte der Besucher auch in "Masterclasses" vertiefen und sich etwa von Amazon "Gen-AI-Lösungen für Medien und Unterhaltung mithilfe der Cloud" zeigen lassen. Dabei wurde die Durchdringung (oder Infiltration) medialer Inhalte mit KI-Werkzeugen zum Zwecke der Datenerfassung und Monetarisierung sichtbar. So lassen sich etwa nutzergenerierte Inhalte in den sozialen Medien auditiv oder visuell dekodieren, also textuell transkribieren und semantisch und kommerziell-monetär auswerten. Kommerzielle Medieninhalte werden "shoppable" gemacht, und jener Rückkanal zum Zuschauer, dessenwegen man seinerzeit Smart-TV lanciert und beiläufig HbbTV auf den Weg gebracht hat, wird jetzt der vollen inquisitorischen Wucht der KI ausgesetzt.
Und so wurde uns wie schon damals ein Fußballspiel gezeigt, das eine Querverbindung von einem Spielertrikot zu einem Kaufangebot für dieses Trikot herstellen kann. Instruktiver als solche Monetarisierungsanleitungen war ein langes Seminar, das Benedikt Höck von KPMG zu zahlreichen Aspekten der KI-Anwendung gab. Arbeitsabläufe mit dem Zusammenspiel verschiedener Agenten machten die Mächtigkeit der neuen, kognitiv aufgerüsteten Maschinerie deutlich, schienen allerdings auch viel Erfahrung vorauszusetzen oder in einer idealisierten Datenumgebung stattzufinden. Daß es eine funktionierende Handschriftenerkennung per Smartphone-Foto gäbe, wie Höck demonstrierte, wäre sensationell, ließ sich aber im Selbstversuch nicht bestätigen.
Der KI-Gipfel
Der KI-Gipfel diskutierte das disruptive Thema breit und hatte außer den Auswirkungen auf die Medienarbeit, in diesem Falle der Süddeutschen Zeitung, auch die globalen Umwälzungen im Blick. Tino Krause, Meta, entwarf eingangs das weitgehend bekannte Bild des KI-Entwicklungsrückstandes in Deutschland und der Flucht vieler Firmen ins Ausland. Die mittlerweile herrschende wirtschaftliche Rezession darf ja als politisch wohlverdient gelten. EU-Europa steht insgesamt bei Innovationen nicht gut da. Krause bezifferte das Risiko-Kapital in dem betreffenden Bereich für die EU auf 4, für die USA aber auf 191 Mrd. $.
Der Nutzer kann diese Dynamik auch unmittelbar sehen, wenn er die wöchentlich neu auftauchenden Portale oder LLM-Versionen aufsucht und um ein paar Brosamen kostenloser Probestücke anbettelt. Die Wertschöpfung findet eben in Kalifornien statt. Jens Redmer, Google, konnte auch leicht das Notebook-LM aus dem Ärmel schütteln, das mit einem Podcast-Generator mal eben das gerade erst populär werdende Podcast-Genre umkrempelt. So schnell kann Alessandro Alviani, SZ Digitale Medien, die Fortbildung im eigenen Hause gar nicht ins Werk setzen, wie die Innovationen der KI-Industrie den Markt vorantreiben.
Weitgehend als Zuschauer sitzt die Politik dabei, in diesem Falle Staatsminister Dr. Florian Herrmann, der für Bayern gleichwohl noch die innovationsfreundlichsten Standortbedingungen bereitstellt, was Krause ausdrücklich anerkannte. Der Rest der Politik wird in Berlin und Brüssel gemacht. Pflichtschuldig war auch eine Ethikerin eingeladen, Prof. Dr. Claudia Paganini, Universität Innsbruck, weil man ja Regulierungsgründe braucht oder der neuen Technik gegenüber der mißtrauischen oder eingeschüchterten Öffentlichkeit die Absolution erteilen will. Dabei müßte doch die Vorstellung, daß der Mensch vor seiner eigenen Schöpfung Angst haben sollte, von vornherein als paranoide Verirrung gelten.
Paganinis Schlußfolgerung, die Forderung einer "neuen Wahrhaftigkeit", ist zwar allemal konsensfähig, aber doch nur soweit tragfähig wie die deutsche Nachkriegskonsensdemokratie, die gerade in den Stürmen einer multipolar und bellizistisch gewordenen Weltordnung und der selbstgesetzten politischen Fehlsteuerungen aufgerieben wird. Selbstverständlich fördert der technische Umbruch die gesellschaftliche Vulnerabilität, wie Paganini feststellte, aber das spricht nicht gegen den Umbruch, sondern gegen den Mangel an gesellschaftlich-politischer Anpassung.
Wie die Faust aufs Auge paßte dazu die von Krause zitierte Handlungsmaxime - neudeutsch: Mindset - "Play to win", die für den amerikanischen Innovationsdrang bestimmend ist und immer war. Markanter läßt sich der Unterschied im Lebensgefühl und im wirtschaftlichen Handeln zwischen den USA und den mitteleuropäischen Träumern, Bestandswahrern und Bedenkenträgern nicht ausdrücken.